Ullrich Pühn2019-07-24T16:59:28+02:00Das Oberhaupt
Es gibt viele Möglichkeiten, sich das psychische Gefüge des Menschen vorzustellen. Wir können uns dieses Gebilde als ein Zusammenwirken einer Horde wilder Piraten vorstellen, so wie es Michael Ende in seinem legendären Buch um Jim Knopf getan hat. Oder wir können es als einen Widersteit verschiedener innerer Stimmen begreifen, so wie es in der Psychotherapie und im Coaching mithilfe der Methode des Inneren Teams verdeutlicht wird. Oder wir können es uns als einen Zusammenklang aller im Menschen schwingenden Töne vorstellen, so wie es die Sonologie tut. Entscheidender Faktor: alle diese Systeme - und sicher auch noch andere - gehen davon aus, dass es ein Oberhaupt gibt bzw. geben muss. Diese Instanz stellt den Bezugspunkt dar, auf den sich alle anderen Kräfte beziehen und nach dem sie sich ausrichten. Indem dieser ruhende Pol in den Mittelpunkt gerückt wird, erhält das Gefüge seine eigentliche Ordnung.
Die Wilde 13
Am direktesten, und im besten Sinne des Wortes einfachsten, kann dies jeder anhand der Bildsprache von Michael Ende erfassen. Die 12 Piraten brauchen ein Oberhaupt, und er beschreibt auf sehr humorvolle Art was passiert, wenn eine Räuberschar keine stabile Führung hat. Jeder Pirat denkt nur an sich selbst, es gibt kein Teamgefühl, es ist keine koordinierte Tätigkeit möglich, es entstehen nichts als Widersprüche und Missverständnisse. Erst unter der Leitung eines Oberhaupts kommt Ordnung in die Gruppe. In einer sinnvollen Zusammenarbeit findet jeder seinen Platz, zum Wohle eines gut funktionierenden Gefüges. Dieses kann Großes vollbringen: in einer konzertierten Aktion unter Aufsicht des Oberhaupts werden die 12 gepanzerten Pforten geöffnet und "das Land, das nicht sein darf" geht unter. Es verschwindet die Welt der Projektionen, der Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen. Zugrunde geht die innere Unordnung, in der sich jeder zum Mittelpunkt macht und seine Bedürfnisse heraus schreit. Auf taucht nun das eigentliche Königreich eines jeden Menschen, sein Land, voller Schönheit, erfüllt von innerem Frieden. Ohne die ordnende Kraft eines starken Oberhaupts hätte es dazu nicht kommen können. Aber ohne das Mitwirken jedes einzelnen Piraten wäre diese Land auch nicht aufgetaucht.
Das Innere Team
Ähnlich verhält es sich in der Welt des Inneren Teams. Diese ist bevölkert von Kindern, Wächtern, Scheinerwachsenen und anderen merkwürdigen Wesen. Sie alle machen sich mit ihren Stimmen bemerkbar, und doch sind sie zu keiner gemeinsamen Aktion in der Lage. Jeder beharrt auf seinen Bedürfnissen, die er erfüllt sehen will. Zusammen schaffen sie es zwar, eine gewisse innere Stabilität zu wahren, die zumindest ein Überleben ermöglicht. Aber wirklich glücklich scheint keiner von ihnen. Die Kinder schreien und fordern, die Wächter schützen mit strenger Macht, und die Scheinerwachsenen reden mit klugen Worten, die keinen überzeugen. Da ist wahrlich keine innere Ordnung, diesem Durcheinander fehlt zweifellos das Oberhaupt.
In Therapeutenkreisen wird immer wieder diskutiert, ob das Innere Team ein solches überhaupt besitzt. Bei vielen Menschen herrscht ein dermaßen lautes Wirrwarr von inneren Stimmen, dass seine Existenz bezweifelt werden muss. Aber in einem solchen Fall steht das Oberhaupt nur stumm in der Ecke und ist in keiner Weise präsent. Die ordnende Kraft hat sich in die Passivität zurück gezogen. Das hat zur Folge, dass die Distanz zu den persönlichen Problemen fehlt und die Teammitglieder umso lauter rufen können. In diesem Moment wird in der Psychotherapie oder beim Coaching mit der Technik des Inneren Teams gerne das Oberhaupt ins Spiel gebracht. Ihm wird zugetraut, die verschiedenen Stimmen zu sortieren, sie zu ordnen, sie zu hören, und ihnen bei Bedarf zu widersprechen. Durch eine Stärkung des Oberhaupts relativiert sich das Kleinklein der inneren Personage, die konstruktiven und wahrhaftigen Stimmen kommen zu Wort. Also auch hier gilt: wer aus seinem inneren Chaos in eine ruhende Ordnung kommen will, wird dies ohne sein Oberhaupt nicht erreichen.
Die tonale Ordnung
In der Welt der Töne sieht die Lage vergleichbar aus. Von den 12 Tönen, mit denen sich der Mensch als klingender Mikrokosmos erfassen lässt, ist einer der zentrale Bezugston: der Persönliche Grundton. Dieser ist individuell verschieden und muss zunächst aus dem Geflecht und dem gleichzeitigen Erklingen aller inneren Töne herausgehört und definiert werden. Das stellt oft eine Kunst dar, denn auch im klingenden Menschen können die verschiedenen Töne ihre Bedürfnisse mehr oder weniger laut kundtun. Da ist es eine besondere Möglichkeit, durch das Singen dieses einzigartigen Bezugstons das Oberhaupt zu stärken und präsent zu machen. Nun können sich alle anderen Töne auf diesen Einen beziehen, die natürliche funktionale Ordnung der Töne entsteht.
Ein starkes Oberhaup bedeutet aber nicht, dass alle anderen Töne verstummen. Sie können weiterhin ihre Bedürfnisse mehr oder weniger lautstark kundtun. Diese inneren Stimmen werden allerdings nicht personifiziert, sondern auf ihre Frequenz abstrahiert: der Sonologe erlauscht, welcher Ton sich gerade bemerkbar macht. Dieser Ton wird dann nicht therapiert, sondern im Körper lokalisiert und durch Singübungen zur Ordnung gerufen. Da ein Ton das Ordnung schaffende Prinzip als natürliche physikalische Kraft in sich trägt, braucht es dafür keinen therapeutischen Prozess. Das Singen allein genügt. Mit Geduld und Durchhaltevermögen finde alle 12 Töne ihren Platz, der klingende Mikrokosmos Mensch kann in seiner ganzen Schönheit erklingen und diesen Zusammenklang in die Welt verströmen.
Souverän sein
Das alles würde nicht funktionieren, wenn es kein Oberhaupt gäbe. Von ihm geht innere Ruhe aus, es ermöglicht eine von störenden Emotionen befreite Lebenssicht und lindert die Dramatik der biographischen Erlebnisse. Das Oberhaupt kann es sogar schaffen, dass man sich selbst mit einem wohlwollenden Lächeln betrachtet, weil man Frieden mit seiner Biographie schließen konnte.
Fast alle Menschen erfüllt die Sehnsucht nach einem starken Oberhaupt, sei es persönlich oder politisch. Diese Sehnsucht stillt sich am besten, wenn man das Oberhaupt in sich selbst entdeckt, fördert und entwickelt. So erschafft man sein eigenes Königreich, gewinnt die Hoheit über sich selbst und wird sein eigener Souverän.